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Claus Mewes: "Rätselhafte Provisorien"
Heiko Neumeisters fotografische Arbeiten 2002 - 2007. "Vertrauen in den Sinn der Zusammenhänge" lautet das optimistische Motto des gerade fertig gestellten Katalogs der in den letzten Jahren entstandenen fotografischen Arbeiten von Heiko Neumeister. Unter diesem Aspekt betrachtet, gewinnen die zunächst unspektakulär erscheinenden Fotografien aus dem urbanen Alltag eine rätselhafte Spannung: Welchen Sinn ergibt das Glätten von Betonmasse in einem rechteckigen Holzrahmen, der zwischen beschnittenen Rosensträuchern platziert ist? Welche Zusammenhänge verdienen hier Vertrauen und welcher Sinn steckt hinter der Handlung? Will der mit Wasserwaage und Blaumann als professioneller Handwerker erkennbare Akteur die im Hintergrund knapp sichtbare Terrasse verlängern oder verbreitern, will er einen trittfesten Weg durch das lockere Erdreich legen oder handelt es sich gar um die Schaffung eines genau justierten Fundaments für die Aufstellung einer Freiraumplastik im Garten eines Kunstliebhabers? Mit diesen oder ähnlichen Fragestellungen, die sich aus dem Bildmaterial herleiten, kommt jedoch kein Betrachter der Motivation des Fotografen auf die Spur, ausgerechnet diese Szene für bildwürdig zu befinden. Auch die anderen im Katalog versammelten Aufnahmen überraschen durch eher absurden denn sinnvollen Zusammenhang der Dinge und menschlichen Handlungen. Eine mit labelfremder gelber Flüssigkeit halb gefüllte "Coca-Cola light"-Flasche steht verloren auf dem Dach eines im Park abgestellten Autos . Wie eine Schlange im Paradiesgarten windet sich ein beachtlicher Schlauch in mehrfachen Ringen um den linken Hauptast eines über dem Stamm gegabelten Baums. Auf der Mitte eines gepflasterten Hofs zwischen dunklen Backsteinfassaden steht ein "Golf" frontal vor einer Mauer. Das in seiner Heckscheibe eingefangene Himmelsblau, der über die Wand ragende, grün blättrige junge Baum und das im Bildmittelgrund von der Seite hell einfallende Sonnenlicht vermitteln den Eindruck eines Zeitschnitts, als die Natur durch Haus-, Straßen- und späteren Mauerbau verstellt und verdunkelt wurde. Die Vermutung drängt sich auf, der Golffahrer habe einen Stadtplan vor dem Mauerbau, als der Hof noch eine Durchgangsstraße war, benutzt und angesichts der Konfrontation mit neuen Tatsachen sein Fahrzeug stehen gelassen. Die Aufnahme des Prototyps eines Mittelklassewagens in verfahrener Situation bietet Rückschlüsse auf die Arbeitsweise des Künstlers, die sowohl auf Spontaneität des Findens von Motiven als auch auf Konzeptualität der Bildkonstruktionen basiert. In dem vorliegenden Fall erfolgte der Druck auf den Auslöser, kurz nachdem Neumeister das links an den Hof grenzende Backsteinhaus seiner Wohnung im Hamburger Karolinenviertel verlassen hatte, um auf einem Spaziergang durch die nähere Umgebung zu fotografieren. Das Konzept, mit einer handlichen 6 x 7 cm formatierten Plaubel-Balgenkamera ausgestattet, zu Fuß durch die Stadt zu streifen und dabei architektonische oder handlungsbedingte Konstellationen der Alltags- und Arbeitswelt visuell zu erkunden, entwickelte der Künstler zunächst als Ausgleich zu seinen sitzenden Tätigkeiten im Auto und am Bildschirm. Jahrelang betrieb Neumeister seinen Broterwerb als Taxifahrer und am Rechner als Bildbearbeiter - neben seinem Studium der freien Kunst von 1999 bis 2005 an den Hochschulen für bildende Künste in Braunschweig und Hamburg bei Johannes Brus, Matt Mullican und Bernhard J. Blume. Den während der ersten Semester verfolgten fachlichen Schwerpunkt Malerei verschob Neumeister schrittweise zugunsten einer Auseinandersetzung mit der Ästhetik technischer Medien. Seine häufig auf kleinen Rechnungsblöcken fixierten Zeichnungen nähern sich umrisshaft knapp der Prägnanz von Piktogrammen an. Kurze Beischriften laden die gezeichneten simplen Gegenstände des Alltags wie Flaschen und Gläser, geometrisch elementare wie biomorphe Formen und Figuren zu geheimnisvollen Sinnbildern auf: "Die Vorherbestimmbarkeit der Zukunft" ist der Kommentar zur linearen Zeichnung zweier gedrungener Flaschen, neben denen sich eine Leerstelle mit gepunktet angedeutetem Umriss einer dritten Flasche befindet. An den Wänden der gangartigen Raumfolge im alternativen Hamburger Ausstellungsort "Hinterconti" hatte Neumeister 2003 die gesammelten Zettelzeichnungen in ein topografisch anmutendes Verweisungssystem aus roten, blauen und gelben Klebebändern integriert, so dass die Installation einen Metro-Plan mit vielen denkwürdigen Haltestellen imaginieren ließ. Malerei und Zeichnung transponierte Neumeister mit dem heute schon fast vergessenen Computerprogramm "Painter" auf den Stand ihres technischen Äquivalents, indem der Künstler Pinselbreite, Borstenstärke, -länge und -zahl, Auftragswinkel wie Druckintensität, Farbsubstanz, -qualität und -skala, Papier- oder Leinwandstrukturen und Formate per Mausklick einsetzte und digitale Bilder ("Ryman 4.32", "Johnsflag 2.4", "Fontana 5.2", 2000/2002), anschließend auch Videosequenzen nach kunsthistorischen Vorlagen schuf ("Selbstporträt als Kleemann", 1:20 min, "Selbstporträt als Seuratmann", 1:15 min). Die Eingriffsmöglichkeiten in Rekonstruktionen der Werke klassischer Moderne schildert Neumeister als "coole Befreiung" von akademischer Gesellenarbeit. Mit dieser "digitalen Malerei" eröffneten sich ihm unendliche Variationsmöglichkeiten, den gegebenen Bilderfundus zu zitieren, umzugestalten, zu animieren und frei zu rekonstruieren, durch versatzstückartiges Verschieben der Einzelteile immer neue Räume zu bauen, sie sogar in Bewegung zu setzen und gewohnte Ordnungen aufzubrechen. Beim Umsortieren der Bildwelten an den Computern seiner Auftragstätigkeit und während seiner künstlerischen Arbeit begann sich Neumeister zu fragen, inwieweit sein eigentliches Interesse an der realen Welt zu vereinbaren war mit den täglich von ihm produzierten Schöpfungen. Sein Entschluss, auf den als Unterbrechung gedachten Spaziergängen zu fotografieren, führte zu einer Praxis gesteigerter Konzentration auf Motive, die zunächst nicht thematisch definiert waren, aber, nach Neumeisters Worten, etwas von der "Verschränktheit" wie "Unaufgeräumtheit" der Welt anschaulich werden ließen. Dabei wurde er sich bewusst, dass die Suche nach dem Bild geleitet war von der ästhetischen Erfahrung am Computer und dass die spontan aufgenommenen Fotografien Realsituationen zeigen, als seien diese am Bildschirm durch mehrfach freies Transformieren entstanden. Gemeinsam ist vielen der Fotos von Neumeister das unmotivierte Nebeneinander von seriellen Versatzstücken wie Gehplatten, fest installierten oder provisorisch aufgestellten Verkehrsführungselementen, Baugerüsten und -zäunen, Transformatorenkästen - auf dem Bürgersteig, der Straße und in freier Landschaft. Das Serialitäts- und Containerprinzip beherrscht die Alltagsrealität, womit permanent Verschiebung und Austausch stattfindet. Die auf dem Autodach platzierte Flasche, die dem Transport eines Getränks zur Befriedigung eines unterwegs auftretenden Durstes dient und en passant fotografiert wurde, taugt als Beweismittel einer Kriminalgeschichte ebenso wie eines dokumentarischen Berichts über die Ubiquität von pfandpflichtigen Mehrwegbehältern aus Plastik oder eines am Rechner erzeugten Fakes zu Werbezwecken. Die Aufnahmen von Neumeister sind visuelle Zeugnisse von Organisationsstrukturen einer Gesellschaft, in der Mobilität aller Teile des Lebens zur Conditio sine qua non erklärt ist. In den Bereich des Grotesken führt ein Foto des Künstlers mit einer ganzen Reihe von transportablen, überlegt farblich sortierten Klohäuschen, einen menschenleeren Gehweg säumend. In Erwartung größerer Benutzerzahlen werden weitere Einheiten zur privaten Bedürfnisbefriedigung aus einem grünen Leihwagen bereitgestellt. Auch hier liegt der Witz in der rätselhaften Qualität der Szene, die zeichenhaft auf organisiertes Bewegungsprinzip im städtischen Alltag hinweist. Beim näheren Hinschauen erkennt man die prominente Fassade des mit den Toilettenboxen zugestellten Strafjustiz-Gebäudes am Sievekingsplatz in Hamburg; außerhalb des Fotos links befindet sich ein aus historischen Gründen hierher 1930 vom Rathausmarkt versetztes Reiterdenkmal Kaiser Wilhelms. Die Verstellung des Blicks, hier auf die gründerzeitliche Repräsentationsarchitektur, ist ein ästhetisches Phänomen, welches sich in historischen Phasen seit der Industrialisierung in Großstädten in immer kürzeren Abständen wiederholt und von Künstlern nicht unbeobachtet bleibt. So hielt Gustave Caillebotte die Blickverstellungen durch die gusseisernen Brückenkonstruktionen im Paris der Dritten Republik nach 1872 in vielen Gemälden anlässlich des Baus des "Pont de l'Europe" am Gare du Nord fest. Die von Caillebotte als Flaneure mit Zylinder und Gehrock charakterisierten Bürger kehren dem Betrachter den Rücken zu, sind ohne freie Sicht auf Stadtpanorama oder gar landschaftlichen Horizont und haben genietete Eisenträger, Gleisanlagen und Eisenbahndampf vor den Augen. Unter den vielen Aufnahmen von Neumeister, die den Verlust des Horizonts und der freien Sicht für den Fußgänger zeigen, sei eine symptomatische, ans Komische grenzende Situation erwähnt, die das Umkippen öffentlicher Ordnungsästhetik fotografisch erfasst . Sowohl Bürgersteig als auch Straße sind versperrt durch parkende Autos, Baugitter, Kabelkasten, Schutzpoller, übrig- und liegengebliebene Ziersteine und Verpackungspapier. Eine Litfasssäule als konventioneller Träger öffentlicher Information und Werbung verschwindet hinter dem einladend geöffneten mobilen Örtchen, in meerblauer Farbe gehalten. Aus der im Steingrau entschwindenden Stadtarchitektur blinkt subtil der Farbklang der Moderne Rot-Gelb-Blau, der im funktionalistischen Habitus von Warnung und Aufmerksamkeitserregung dekorative Signale zur Ordnung des Gewirrs sendet. Neben den Prozessen des Zustellens und der Addition lassen sich mit Neumeisters Fotografien auch Zustände der Umgestaltung und Umformung im Stadtbild nachvollziehen. Der 2007 aus erhöhter Position festgehaltene Blick auf einen Verkehrskreisel während der umfangreichen Baumaßnahmen in der Hamburger HafenCity fixiert eine prekäre Phase sich überlagernder Zeichen, Oberflächen und Materialien zwischen Alt und Neu, verfestigt und aufgelöst, provisorisch angehäuft und abgestellt, aufgerissen und frisch verfugt. Mehrere Möglichkeiten der Passage für Autos und Fußgänger sind im Angebot: von der direkten Querung über den schwungvollen Bogen bis zur vollständigen Umrundung des Baugeländes. Besonders diese Aufnahme macht den komplexen Ansatz Neumeisters, Fotografie und Malerei ästhetisch zu verknüpfen, deutlich. Das Szenario der Baustelle könnte auch in Analogie zu dem unfertigen Zustand eines Gemäldes gesehen werden. Malerisch pastose Farbpartien aus Grau, Braun und Sandgelb, die wie Farbaufträge des Informel anmuten, wechseln mit sachlich klaren Gegenstandsdefinitionen und glatten Flächen - entsprechend der Entstehung eines Bilds in Schichten und verschiedenen Arbeitsphasen von der großzügigen Grundierung bis zum exakten Schlussstrich und Finis, von der kompositionellen Skizzierung bis zum Reuezug. Zurückdenkend an Neumeisters Motto vom "Vertrauen in den Sinn der Zusammenhänge" und angesichts seines Blicks auf die Wirklichkeit, wird man sich der historischen, sozialen und ästhetischen Dimensionen bewusst, die in den banalen Provisorien und Inkommensurabilitäten des städtischen Alltags präsent sind.
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